Biographie
(Gustav) Allan Pettersson
geb. am 19. September 1911 in Västra Ryd (Uppland/Schweden)
gest. am 20. Juni 1980 in Stockholm
Aufgewachsen in Stockholms Arbeiterviertel Södermalm, gelang es Pettersson durch strenge Selbstdisziplin, sich mit Hilfe der Musik aus dem ihn umgebenden sozialen Elend und schwierigen Familienverhältnissen zu befreien. Im Alter von zwölf Jahren erwarb er seine erste Violine. Nach mehreren vergeblichen Versuchen wurde Pettersson 1930 zum Studium am Stockholmer Konservatorium zugelassen, wechselte bald zur Viola, nahm aber auch Unterricht im Kontrapunkt (bei Melcher Melchers). Während dieser Zeit, in der auch erste kleine Kompositionen entstanden, wirkte Pettersson vor allem als Instrumentalist in verschiedenen Ensembles mit – so auch bei der schwedischen Erstaufführung von Schönbergs Pierrot Lunaire im April 1937.
Nach Abschluss der Studien erhielt er 1939 für sein hervorragendes Bratschenspiel das angesehene Jenny-Lind-Stipendium, das ihm einen Aufenthalt bei Maurice Vieux in Paris ermöglichte (1939/40). Noch vor seiner Abreise erhielt Pettersson eine Anstellung im Orchester der Stockholmer Konzertgesellschaft (den heutigen Stockholmer Philharmonikern). Während der 1940er und frühen 50er Jahre rückte zusehends der Wunsch nach einer schöpferischen Auseinandersetzung mit Musik in den Vordergrund – geradezu systematisch erarbeitete sich Pettersson das Handwerk: Nach Privatstunden u.a. bei Otto Olsson (Kontrapunkt), Karl-Birger Blomdahl (Komposition) und Tor Mann (Instrumentation) ließ er sich ab 1950 vom Orchesterdienst beurlauben und ging für zwei Jahre nach Paris, um bei Arthur Honegger und René Leibowitz zu studieren (1951–1952).
Bereits zu dieser Zeit machten sich erste Anzeichen einer chronischen Arthritis bemerkbar, die Pettersson in den folgenden Jahrzehnten zunehmend an seine Wohnung fesselte. 1970 wurde er durch eine Nierenentzündung zu einem neunmonatigen Krankenhausaufenthalt gezwungen. Das von ihm 1975 gegen die Stockholmer Philharmoniker ausgesprochene (bald jedoch wieder aufgehobene) Verbot, seine Werke aufzuführen, beeinträchtigte in Schweden für nahezu zwei Jahrzehnte die Rezeption von Petterssons Œuvre. Obgleich Pettersson sich selbst immer wieder Anfeindungen ausgesetzt sah – sowohl eigene Schriften als auch die von Peter Berggren in zwei Dokumentarfilmen (1973 und 1978) eingefangenen Äußerungen legen davon Zeugnis ab –, wurde ihm schon früh von offizieller Seite Anerkennung zuteil: Seit 1954 erhielt Pettersson mehrfach eines der jährlich vergebenen staatlichen Kompositionsstipendien sowie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Ehrenpreis der Stadt Stockholm und den Christ-Johnson-Preis der Königlichen Musikakademie (beide 1968), den Kurt Atterberg-Preis von Föreningen Svenska Tonsättares Internationella Musikbyrå (1974), den Carl Albert Anderson-Preis (1976) und den Litteris et Artibus-Preis (1977). 1970 wurde er zum Mitglied der Königlichen Musikakademie und 1979 zum Professor ernannt.
Zum Werk
Trotz seines späteren gewichtigen Œuvres ist es der frühe, 24 Klavierlieder umfassende Zyklus Barfotasånger [Barfußlieder] (1943–45), dem in Petterssons kompositorischem Schaffen die Funktion eines »Bekenntniswerks« zukommt. Dies belegen nicht allein die selbst gedichteten, mitunter autobiographischen Textvorlagen, sondern auch die vielfache zitathafte Verwendung einzelner Melodien in anderen Werken (bereits zu Beginn der Sonate Nr. 1 für 2 Violinen, später dann zum Beispiel auch exponiert in der 6. und 14. Sinfonie sowie im Violinkonzert Nr. 2).
Steht dieser Liederzyklus noch ganz in der Tradition (und erinnert wohl nicht zufällig an Schuberts Winterreise), so lassen sich schon für die Sonaten für 2 Violinen kaum mehr Anhaltspunkte einer Anverwandlung bekannter Stile oder Modelle ausmachen. Die nahezu systematisch betriebene Ausbildung, die vergleichsweise späte Hinwendung zum Komponieren und das hohe Maß an Selbstreflexion (die bereits gezählte 1. Sinfonie blieb trotz mehrfacher Revisionen unvollendet) weisen Pettersson als einen in seiner Sprache und kompositorischen Grammatik eigenständig agierenden Komponisten aus. So lehnte er nach eingehender Beschäftigung mit der Dodekaphonie diese vehement ab und blieb den Bestrebungen der Avantgarde gegenüber skeptisch. Den Unterricht bei Leibowitz resümierte er: „Erst als mir diese Gesetze bekannt waren, konnte ich sie verwerfen und mich von ihnen lossagen. Ich kann nicht so wie andere, sonst gerate ich aufs Glatteis, ich muss so schreiben können, wie ich will.“
Spuren der Auseinandersetzung mit der Wiener Schule finden sich gleichwohl in der kleingliedrigen, auf Sekundintervalle bezogenen Thematik und der kammermusikalisch-durchsichtigen Instrumentation der Sinfonie Nr. 2. Zu einer stilistischen Konsolidierung kam es erst mit den Sinfonien Nr. 5–9, in denen sich auch der Gegensatz zwischen emphatischen Steigerungen und melodisch geprägten, vorzugsweise den Streichern anvertrauten »lyrischen Inseln« (Gülke) zu einem charakteristischen Merkmal der Verlaufsgestaltung ausbildete. Die in der Regel einsätzigen und monumental anmutenden Partituren erweisen sich im Detail als extrem dicht gearbeitet; das thematische Material wird dabei über weite Strecken einer metamorphosenartigen Entwicklung unterzogen, die kaum Rückbezüge kennt. Der Wandel zum »Spätwerk« vollzog sich während des neunmonatigen Krankenhausaufenthalts (1970/71). Während dieser Zeit entwarf Pettersson die 10. und 11. Sinfonie, die zwar vergleichsweise knapp gefasst sind, in der Faktur jedoch verdichtet und im Gestus geradezu unerbittlich wirken. Petterssons nachhaltiges gesellschaftliches Engagement dokumentiert sich in der 12. Sinfonie und der Kantate Vox humana durch die Auswahl der Texte (u.a. von Pablo Neruda).
Prägend für die in Deutschland während der späten 1980er Jahre einsetzende publizistische Rezeption wurde (bedingt durch die optisch wie klanglich suggestiven Dokumentarfilme von Peter Berggren) das Bild eines Komponisten, dessen Œuvre sich als der „ohnmächtig-mächtige Versuch einer Selbsttherapie“, als „unmittelbares klangliches Protokollieren von Erregungs-, Schmerz-, Krankheits- und Beruhigungszuständen“ (Jungheinrich) präsentierte. Dieser Topos gründet sich vor allem auf den 1952 veröffentlichten Aufsatz Dissonance douleur, der jedoch allein im Zusammenhang mit dem Konzert für Violine und Streichquartett zu verstehen ist und der die konträren ästhetischen Perspektiven von Honegger und Leibowitz widerspiegelt. Den vorläufigen Höhepunkt der Rezeption stellt ein vom Kultursekretariat Nordrhein-Westfalen koordinierter Aufführungszyklus sämtlicher Werke in der Saison 1994/95 dar. Seit 1985 besteht die Internationale Allan Pettersson Gesellschaft e.V. (IAPG) mit Sitz in Deutschland, seit 2003 darüber hinaus eine schwedische Gesellschaft mit Sitz in Stockholm.
© Michael Kube
Wiederabdruck aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil Bd. 13, Kassel 2005, Sp. 441–444.